Ein Fest der Sinne
Stimmen-Festival / Trotz Absage entwickelte sich der erste Abend des Minifestivals «Viva Italia - Taranta Festa» zu einem rauschenden Volksfest.
Noch eine Stunde vor dem Konzert im antiken Theater Augusta Raurica in Kaiseraugst goss es dermassen aus Kübeln, dass man ernstliche Bedenken bekam, ob der Event im Rahmen des Stimmen-Festivals mit den wichtigen Vertretern der süditalienischen Taranta-Tradition Rione Junno, Cantori Di Carpino und Antonio Infantino überhaupt stattfinden kann. Und tatsächlich zeigte sich beim Eintreffen am Ort des Geschehens, dass das Konzert in Folge eines gewaltigen Orkans abgesagt worden war: 10 Zelte weggefegt, mehrere Marktstände zerstört, das Dach der grossen Bühne im Römertheater zerrissen, die Musikanlage wegen eindringendem Wasser funktionsuntüchtig; der Sturm hatte ganze Arbeit geleistet.
Breits wollte man enttäuscht den Rückzug antreten, als einem mitgeteilt wurde, dass einige der anwesenden Musiker im Festzelt oberhalb des Theaters spontan ein improvisiertes Konzert geben würden. Mit einer Mischung von Skepsis und Hoffnung also zum Zelt, in dem auf einem kleinen Platz zwischen einer Vielzahl von Tischen mit speisenden Menschen bereits ein Ensemble Zugange war, das mit fröhlichem Gesang, Tamburin, Gitarren sowie einer spritzig gespielten Metallklarinette eine Tanzgruppe begleitete, die einen wilden Tarantella auf den schwankenden Holzboden des Festzeltes legte. «I Solisti di Montemarano» mit ihren Tänzerinnen spielten einen unverwechselbaren Tarantella wie er seit Jahrtausende von den Hirten in den Bergen von Irpinia praktiziert wird.
Dann ging es Schlag auf Schlag weiter und immer mehr entwickelte sich dieses aus der Not spontan organisierte Ersatzkonzert zu einem rauschenden Volksfest, wo sich der kleine Platz zwischen den Tischen im ovalen, mit schön geformten Holzträgern erstellte Festzelt in einen kleinen süditalienischen Dorfplatz verwandelte, der den authentischen und intimen Charakter dieser Darbietungen sehr entgegen kam (was auf der grossen Bühne im Römertheater so vermutlich nicht möglich gewesen wäre).
Mehrere der Tanz- und Musikgruppen, die zu dem kleinen dreitägigen Festival «Viva Italia - Taranta Festa» innerhalb des Stimmen-Festivals im antiken Theater Kaiseraugst eingeladen worden waren, boten ihre regionalen Varianten des Tarantellas dar. Nach den Frauen aus Tamorra in der Region Neapel, die in ihren weitwallenden, naturfarbenen Leinegewändern die tanzenden Satyrn und Menaden auf den Hauswänden des antiken Pompejis wieder aufleben liessen, spielten die beiden Gruppen «Lingatere» und «Rione Junno» auf. Bei diesen beiden Ensembles fielen vor allem die jungen Musiker auf, die ähnlich wie in Argentinien beim Tango, in Spanien beim Flamenco oder bei der Musette in Frankreich dem globalisierten, anglo-sächsischen Musikeinheitsbrei etwas entgegensetzten wollen und sich wieder intensiv mit der Tradition der Tarante auseinandersetzten. Mit ihren modernisierten Varianten dieser mitreissenden Musik heizten die jungen Musiker den immer mehr werdenden Tänzerinnen und Tänzern dermassen ein, das man sich um die Stabilität des Festzeltes ernsthaft zu sorgen begann.
Denn krönenden Abschluss dieses rauschenden Fest der Sinne bildete Altmeister Antonino Piccininno, der strotz seines hohen Alters mit seinem kraftvollen Gesang das traditionelle Erbe der Tarante verkörpert und von den vielen anwesenden jungen italienischen Tänzern und Musikern fast schon wie ein Halbgott gefeiert wurde.
Erschienen in der Basellandschaftlichen Zeitung