Harte Dissonanzen mit lyrischer Kantabilität
Gare du Nord / Der Pianist Kolja Lessing interpretierte das gesamte Klavierwerk des russisch-schweizerischen Komponisten Wladimir Vogel.
In Kompendien und Publikationen über Schweizer Komponisten des 20. Jahrhunderts fehlt er fast nie, der Name Wladimir Vogel (1896-1984). Nicht ganz zu unrecht, lebte doch Vogel nach langer Irrfahrt des Exils seit 1939 in der Schweiz, deren Staatsbürgerschaft er auch annahm. Dass allerdings Vogel als Sohn eines deutschen Vaters und einer russischen Mutter in Moskau geboren wurde, erkennt man nicht nur an seinem Vornamen Wladimir, auch in seinen Kompositionen sind Spuren aus seinem russischen Geburtsland unüberhörbar.
Dies wurde deutlich bei zwei Konzerten des Pianisten Kolja Lessing im Bahnhof für Neue Musik, Gare du Nord, der zum ersten Mal eine Gesamteinspielung sämtlicher Klavierwerke von Wladimir Vogel vornahm. Im Besonderen Einflüsse des russischen Komponisten Alexander Skrjabin sind in seinen frühen Werken deutlich hörbar wie beispielsweise in den Stücken der «Nature vivante» (1917-1921), die mit ihrer ausufernden Harmonik oft auch die Grenze zur Atonalität ritzen. Beim Stück «Trepak» (1919) wiederum mit seinem an Sergei Rachmaninow gemahnenden kantablen Mittelteil, verwendete Vogel einen russischen Tanz als Grundlage.
Auch Konzepten der Programmusik war Wladimir Vogel nicht abgeneigt wie drei Stücke bewiesen, die Kolja Lessing unter dem Titel «Glocken» zusammengefasst hatte. Fast schon minimalistisch wirkte das drehende Glockenmotiv im Stück «Russische Glocken», das mit immer mehr motivischem Material angereichert zu einem intensiven Geläut verdichtete, um schliesslich in einem zarten Ritardando auszuklingen. Sinnlich auch die «Miniaturen aus dem Exil» (1933-1941), die streckenweise Assoziationen an Robert Schumanns «Kinderszenen» heraufbeschworen, dessen romantisierender Lyrismus allerdings immer wieder durch ungemein hart wirkende Dissonanzen durchbrochen wurde.
Die «4 Versionen einer Zwölftonfolge» (1973) wiederum bildeten einen deutlichen Beleg für die intensive Beschäftigung Wladimir Vogels mit der 12-Tontechnik von Arnold Schönberg. Zur Vermeidung kompositionstechnischer Kälte allerdings bemühte sich Vogel, ähnlich wie Alban Berg, diesem Werk durch melodischem Reichtum und raffinierter Klanggestaltung ein humanes Antlitz zu verleihen.
Höhe- und Schlusspunkt des ersten Konzertabends bildete die «Etude-Toccata» (1926), die mit ihren wild präludierenden Tonkaskaden hohe Anforderungen an die Spieltechnik des Pianisten stellte. Souverän und ohne einen Hauch der Unsicherheit bewältigte Kolja Lessing auch diese schwierige Aufgabe, was vom geneigten Publikum mit begeistertem Applaus goutiert wurde.
Erschienen in der Basellandschaftlichen Zeitung